Sechzehn Jahre nach der Bologna-Erklärung ist die darauf folgende Reform weitestgehend umgesetzt. Ihre Prämissen und Imperative sind im Verbund mit dem Konsens der Politik für eine neoliberal-wettbewerbliche Orientierung der Hochschulen weitestgehend zu den bestimmenden Faktoren im Hochschulwesen geworden. Damit insbesondere verbunden sind Schlagworte wie „Humankapital“ und „Employability“, eine erhöhte Verschulung und Einengung des Studiums sowie das Konzept der unternehmerischen Hochschule. Diese passt ihre Bildung an Marktzwänge an und muss sich im Wettbewerb um verknappte Finanzmittel behaupten. Wettbewerbsgeleitete Managementstrukturen und Standortwettbewerb prägen so derzeit die Hochschulen. Die aktuelle Generation von Präsident*innen befeuert dazu noch einen unnötigen Wettbewerb um Studieninteressierte. Das hat Auswirkungen auf die Hochschulangehörigen. Durch einen zentralisierten, einerseits überbürokratisierten und andererseits entdemokratisierten Kontrollapparat werden diese nach ihrer Verwertbarkeit kategorisiert, bewertet und sortiert. Letztlich werden sie dadurch auch diszipliniert und damit an Märkte und marktbestimmte Konformitätsvorstellungen angepasst. Eine freie Bildung ist unter diesen Umständen kaum möglich. Dazu zeigen Abbrecher*innenzahlen sowie Statistiken zu Burnout, Depression und Medikamentenmissbrauch, dass das aktuelle Bachelor- und Masterstudium Menschen krank macht. Der Druck, sich Regelstudienzeiten und Prüfungszwängen anzupassen, ist oft größer, als die Möglichkeit, die noch gebliebenen Freiheiten zu nutzen. All das sind prekäre Studiums-, Arbeits- und Lebenssituationen. Das trifft insbesondere diejenigen Mitglieder unserer Gesellschaft, die auch aufgrund ihrer sonstigen Lebenssituation weniger anpassungsfähig sind.
Aufgrund dieser Missstände wollen wir uns im Wahlkampf und nach der Landtagswahl 2018 für ein Ende dieser prekären Verhältnisse und Situationen stark machen und uns stattdessen für soziale Bedingungen in Studium und Arbeit an niedersächsischen Hochschulen einsetzen. Selbiges fordern wir hiermit von den kandidierenden und insbesondere von den danach regierenden Parteien.
Finanzielle Situation von Student*innen
Das Studium wird nach wie vor in erheblichem Maße durch den finanziellen Hintergrund der Menschen mitbestimmt. In kaum einem europäischen Staat hängt der Studienerfolg junger Menschen so sehr vom Bildungshintergrund der Eltern und damit allzu oft auch vom finanziellen Hintergrund ab. Dies steht der Forderung nach Bildungsgerechtigkeit entgegen und ist nicht hinnehmbar. Wir fordern einen konsequenten Einsatz für Verbesserungen in diesem Bereich, insbesondere durch einen Ausbau der BAföG-Förderung, einer Förderung von sozialem Wohnungsbau und der Abschaffung von Bildungsgebühren.
BAföG
Das Finanzierungsmodell der BAföG-Förderung weist erhebliche Lücken auf. BAföG ist, mit wenigen Ausnahmen, an die Regelstudienzeit gebunden und ermöglicht daher weder ein wirklich vertieftes Lernen noch den Blick über den Tellerrand des eigenen Studienfaches noch ein Scheitern oder ein Umentscheiden bezüglich des Studienfaches über einen begrenzten Zeitraum hinaus. BAföG ist (für die Meisten) abhängig vom Einkommen der Eltern und damit nur wenigen Menschen zugänglich, wobei sich in der Praxis immer wieder zeigt, dass die Berechnungsgrundlagen an der Realität völlig vorbeigehen und viele Menschen, die eigentlich darauf angewiesen wären, kein oder nur wenig BAföG erhalten. BAföG ist außerdem gebunden an das Alter, wodurch Student*innen über dreißig davon völlig ausgeschlossen sind. Dies bevorteilt vor allem Menschen mit einem sehr geraden Lebenslauf ohne Umwege. Dies sind nur einige der größten Probleme. Wir fordern daher eine Überarbeitung des Finanzierungsmodells BAföG in Richtung einer elternunabhängigen Studienfinanzierung für alle.
Bezahlbarer Wohnraum
Das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum ist ein generelles soziales Problem, das in vielen Hochschulstädten aber insbesondere Student*innen sehr stark betrifft. Eine Konzentration von Wohnungsbaumaßnahmen auf teuren und exklusiven Wohnraum schafft eine zusätzliche Belastung, vor allem für Student*innen (z.B. durch kaum zur Verfügung stehenden Wohnraum für Wohngemeinschaften), die mit geringen finanziellen Mitteln auskommen müssen. Dies befördert also indirekt die Bildungsungerechtigkeit. Wir fordern Sie auf, sich dafür einzusetzen, dass mehr Wohnungsbau im niedrigen und mittelpreisigen Segment stattfindet, anstatt dass Flächen an Investoren vergeben werden, die Luxuswohnungen bauen.
Gebühren
Die allgemeinen Studienbeiträge wurden in Niedersachsen von der derzeitigen Landesregierung abgeschafft. Übrig blieben jedoch Gebühren, die weiterhin selektiv wirken. So sind Verwaltungsgebühren nichts weiteres als Studiengebühren mit einem anderem Namen. Auch Langzeitstudiengebühren lehnen wir ab, da sie eine Belastung all jener bedeuten, die ohnehin schon aufgrund des Auslaufens von BAföG-Ansprüchen und anderer finanzieller Vergünstigungen (z. B. Krankenversicherung) einer Mehrbelastung ausgesetzt sind. Darüber hinaus lehnen wir eine stetige Erhöhung von Studentenwerksbeiträgen ab. Die Studentenwerke sollten vom Land angemessen mitfinanziert werden, um ihren Aufgaben nachzukommen. Das kann nicht von den Student*innen allein getragen werden, wie es in den letzten Jahren zu oft der Fall war.
Student*innen in besonderen Lebensumständen
Neben diesen finanziellen Situationen sind es auch besondere Lebensumstände einiger Student*innen, die ein Studium verhindern. Student*innen in diesen Lebenslagen sollten gezielt gefördert werden bzw. gesetzliche und strukturelle Hürden, die in diesen Situationen Probleme verursachen, sollten abgebaut werden. Beispielhaft werden hier Frauen* im Mutterschutz und Geflüchtete behandelt.
Mutterschutz
Nach der lange überfälligen Novellierung des Mutterschutzgesetzes auf Bundesebene, sind viele Fragen zum Schutz und zur Absicherung von Schülerinnen*, Praktikantinnen* und Studentinnen* offen geblieben. Zwar soll es diesen Frauen* möglich sein, den Mutterschutz mit den regulären Schutzzeiten in Anspruch zu nehmen, und diese Novelle ist in der Tat zu begrüßen, doch wird der anderen Lebenssituation der hier Betroffenen keinerlei Rechnung getragen. Es müssen auf Landesebene schnellstmöglich Antworten auf die Fragen gefunden werden, die auf Bundesebene unbeantwortet blieben.
So wäre ein Aufschub jeglicher Fristen in Bezug auf Prüfungen und Abgaben eine gute Lösung, die Frauen* die Möglichkeit bietet, ihre Tätigkeit z.B. als Studentin* in dem Maße fortzuführen, in dem sie es individuell wünschen. Denn die Belastungen der verschiedenen Prüfungsformen sind sehr unterschiedlich. Deswegen braucht es zum Beispiel die Flexibilität, eine schriftliche Prüfung abzugeben, aber an einer Sportprüfung nicht teilzunehmen. Des weiteren sind jegliche Probleme bezüglich der finanziellen Absicherung der entsprechenden Personen in der Bundesgesetzgebung nicht tangiert worden. Student*innen fallen, sofern sie nicht in einem regulären Arbeitsverhältnis sind oder BAföG erhalten, durch jegliche Raster, da sie weder regulär Geld aus ihrer vorherigen Tätigkeit erhalten, noch das Recht auf ALG II haben. Zudem erhalten sie auch die regulären Tagessätze nicht, die andere Frauen bekommen. Die zwingende Konsequenz ist entweder eine Abhängigkeit von Eltern oder Partner*innen oder die Notwendigkeit, sich anderweitig Geld zu beschaffen. Es muss eine Möglichkeit gefunden werden, Frauen in dieser Situation abzusichern und ihr Einkommen mindestens für die Schutzzeit auf den BAföG-Höchstsatz aufzustocken.
Geflüchtete an Hochschulen
Geflüchtete Menschen erleben derzeit starke Hürden beim Versuch, Hochschulen zu besuchen und insbesondere dabei, ein reguläres Studium zu absolvieren. Zu diesen Hürden gehört nicht nur die bürokratische Anerkennung von geleisteten Abschlüssen, sondern auch finanzielle Hindernisse. So werden notwendige Sprachkenntnisse nicht ausreichend gefördert, ein erheblicher Teil niedersächsischer Hochschulen ist Mitglied bei der Bewerbungsplattform Uni-Assist mit ihren rassistischen Gebühren und es gibt vielfach keine Finanzierungsmöglichkeiten, die Geflüchteten- und Student*innen-Status miteinander verbinden. Die Sonderprogramme, die an verschiedenen niedersächsischen Hochschulen eingerichtet wurden, waren ein wichtiger Schritt, doch sollte es Geflüchteten langfristig möglich sein, einen regulären Hochschulzugang mit offiziellem Student*innen-Status zu erreichen. Dazu wird auch dauerhaft eine Weiterentwicklung der Sozial-, Rechts- und Studienberatungen nötig sein. Geflüchtete Menschen leiden ganz besonders unter der Prekarisierung der Gesellschaft durch entsprechende „Sonderbehandlungen“. Diese Diskriminierungen und Kriminalisierungen müssen zugunsten würdiger Lebensbedingungen von Geflüchteten sofort beendet werden.
Studiumsqualität / Studierbarkeit
Der finanzielle Druck und besondere Lebenslagen entfalten besonders im Rahmen der derzeitigen Studiumssituation an den Hochschulen eine Wirkung, die bei den meisten Student*innen zu sozialer Unsicherheit führt. Dort herrscht vielfach ein Misstrauen gegenüber den Student*innen und es wird auf Druck gesetzt, um sicher zu gehen, dass diese auch ihrer vermeintlich vorgesehenen Beschäftigung nachgehen: lernen. Dieser Druck lässt dabei zu wenig Raum für kritisch hinterfragende Bildung. Die Situation macht aber selbst ohne solche Ansprüche an ein Studium krank und wird den besonderen Bedürfnissen vieler Student*innen nicht gerecht.
Akkreditierungswesen
Wichtig für sinnvolle Studienreformen ist eine Reform des Akkreditierungswesens der Studiengänge. Dieses sollte bundesweit einheitlich gestaltet sein. Sowohl bundesweit als auch in den verschiedenen Gremien der Hochschulen vor Ort müssen dabei demokratische Prozesse mit studentischer Beteiligung durch die Reform gestärkt werden, anstatt die Genehmigung der Studiengänge privatwirtschaftlich organisierten Agenturen zu überlassen.
Regelstudienzeit
Die Regelstudienzeit dient nicht nur der Begrenzung von finanzieller Unterstützung oder gar dem Beginn der Sanktionen, sondern sorgt auch für die Normierung finanziell unabhängiger Student*innen. Die Regelstudienzeit zu übertreten ist häufig eine enorme Hürde – dennoch tun es 40% der Student*innen deutschlandweit. Wir wollen diese Grenze auflösen, um diesen und den anderen 60% der Student*innen eine Hochschulbildung nach ihren eigenen Maßstäben zu erleichtern oder erst zu ermöglichen.
Anwesenheitspflicht
Eine generelle Anwesenheitspflicht in Studiums- und Prüfungsordnungen wurde zwar zuletzt gesetzlich untersagt. Diese Regelung greift bisher jedoch noch nicht, da didaktische Konzepte von Lehrveranstaltungen vielfach darauf abzielen, dass die Student*innen anwesend sind. Anwesenheit bei Lehrveranstaltungen kann auch durchaus sinnvoll sein und wir unterstützen Student*innen dabei, auch mit ihren Kommiliton*innen und den Lehrenden in direkten Kontakt zu treten. Ein Zwang kann dabei aber nicht die Lösung sein. Dieser verschärft nur die Unvereinbarkeit von Studium und anderen Bedürfnissen und Nöten, wie den Zwang, Geld zu verdienen. Auch schleppen sich Student*innen so oft selbst dann zu den Veranstaltungen, wenn sie krank sind. Darüber hinaus garantiert eine reine physische Anwesenheit keinesfalls bessere Lernbedingungen als ein Selbststudium der Veranstaltungsinhalte. Dieser Zwang ist vielfach eine Kulturfrage unter den Dozent*innen, aber auch die Politik kann bessere Lernbedingungen durch Strukturen und Gelder fördern.
Forschung und Arbeitsbedingungen an Hochschulen
Strukturen und Geld sind nicht nur für die Studierbarkeit auch außerhalb der Normen wichtig, sondern auch für die Forschung und die Arbeitsbedingungen an den Hochschulen.
Ausfinanzierung der Hochschulen statt Forschung im Wettbewerb
Deswegen fordern wir eine ausreichende Finanzierung der Hochschulen, die nicht relativ zu den Zahlen der eingeschriebenen Student*innen stetig weiter sinkt. Eine Ersatzfinanzierung wird derzeit durch (vor allem staatliche) Drittmittel erreicht. Diese Gelder hängen jedoch an der wettbewerblichen Profilierung einzelner Projekte. Die Speerspitze solcher Wettbewerbe ist die Exzellenzstrategie. Ein solcher Wettbewerb ist wissenschaftsfeindlich.
Viel Zeit wird darauf verwendet, Projekte zu beantragen, ohne letztendlich in ihnen forschen zu können. Das schlägt sich auch auf die Arbeitsbedingungen nieder. Wer nicht gerade eine Professor*innen-Stelle inne hat, ist von solchen Projekten in der Forschung und damit als Arbeitskraft abhängig. Das bedeutet für viele Hochschulangehörige, befristet und unregelmäßig beschäftigt zu sein. Dieser Prekarisierung des akademischen Mittelbaus muss ein Ende gesetzt werden.
Wissenschaft in Verantwortung
Zudem wird unter wettbewerblichen Bedingungen nur beantragt und genehmigt, was nach aktuellen Gesichtspunkten produktiv und verwertbar erscheint. Wir sagen aber, dass Wissenschaft eine größere Verantwortung hat als die Realisierung von Innovationen und Verbesserungen, die sich vorher die Politik in ihren Wettbewerbsausschreibungen ausgedacht hat. Wir wollen auch mutige und zunächst irrelevant anmutende Forschung ermöglichen. Erst diese hat die Möglichkeit, zukünftige Grundlagenforschung zu werden. Zudem stehen wir hinter der Forderung nach einer Zivilklausel, die der Wissenschaft ihre Verantwortung im Sinne einer nachhaltigen, demokratischen und friedlichen Zukunft bewusst macht und Rüstungsforschung ausschließt.
Schlusswort
Für all diese Formen der Prekarisierung an niedersächsischen Hochschulen ist es zudem wichtig, interne Demokratie zu stärken. In der nun auslaufenden Legislaturperiode wurden dabei zwar einige kleine, insgesamt aber enttäuschende Schritte getan. Wir fordern nun alle Parteien dazu auf, die Landtagswahl 2018 und die nachfolgende Legislaturperiode dazu zu nutzen, Bildungsgerechtigkeit, echte Wissenschaftsfreiheit und Demokratie an niedersächsischen Hochschulen zu stärken. Ansatzpunkte können dabei insbesondere die in diesem Forderungspapier genannten sein, aber es lassen sich sicherlich viele weitere Punkte ausmachen. Wir bieten zu diesem Zweck auch allen Parteien eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Student*innen-Vertretungen an.